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Newsletter
September 2019

Dolmetschen auf Distanz

Distanz-Dolmetschen ist in!

Die Beratung und Rechtsvertretung im neuen Asylverfahren findet grösstenteils mit Hilfe von Dolmetschenden via Telefon statt. Auch das Staatssekretariat für Migration SEM setzt im Asylverfahren bei kurzen Vorgesprächen auf Telefondolmetschen. Es erstaunt daher nicht, dass verschiedene regionale Vermittlungsstellen ihr Angebot für Telefondolmetschen auf- oder ausbauen und zunehmend auch Videodolmetschen anbieten.

In Deutschland und Österreich ist das Angebot von SAVD Videodolmetschen GmbH sehr erfolgreich, mit hauptsächlicher Anwendung in Spitälern, mobilen Gesundheitsdiensten, Gefängnissen oder auf Arbeitsämtern. Nur: 

  • Unter welchen Bedingungen kann die Verdolmetschung auf Distanz erfolgreich sein?
  • Über welche Kompetenzen müssen Dolmetschende verfügen?
  • Über welche Kompetenzen müssen Fachpersonen verfügen?

Wissenschaftliche Studien zeigen, dass Telefon- und Videodolmetschen vom qualitativen Standpunkt her schwierig sind. In der Praxis werden diese Bedenken aus organisatorischen und finanziellen Gründen aber gerne beiseite geschoben. 

INTERPRET stellt in diesem Newsletter ein paar Gedanken und mögliche Antworten auf die oben formulierten Fragen zusammen. Wir nehmen Stellung zum Telefondolmetschen im Rechtsschutz, fassen einige Publikationen und Projekte zusammen und verweisen erneut auf das Positionspapier des BDÜ zum Dolmetschen auf Distanz.

Dabei geht es uns nicht darum, das Dolmetschen auf Distanz grundsätzlich in Frage zu stellen. Im Gegenteil: Auch INTERPRET ist überzeugt, dass es zahlreiche Situationen gibt, in denen Telefon- und/oder Videodolmetschen sinnvoll und zielführend eingesetzt werden kann. Wir plädieren aber dafür, beim Abwägen der Vor- und Nachteile der verschiedenen Dolmetsch-Formate auch die Ebene der Qualitätssicherung sowie die Arbeitsbedingungen zu berücksichtigen. Da die organisatorischen und finanziellen Vorteile offenbar auf der Hand liegen, erlauben wir uns, im Folgenden vor allem auf die erhöhten Anforderungen für alle Beteiligten und die Risiken für die Qualität der Verdolmetschung hinzuweisen.

Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre!


Telefondolmetschen im Rechtsschutz

In der Beratung und Rechtsvertretung von Asylsuchenden im Rahmen des beschleunigten Asylverfahrens wird fast ausschliesslich mit Dolmetschenden via Telefon zusammengearbeitet. Die Gründe dafür sind, so ist anzunehmen, in erster Linie organisatorischer und finanzieller Natur.

INTERPRET erachtet diese Tatsache aus unterschiedlichen Gründen als bedenklich:

  • Die durchschnittliche Dauer der Gespräche beträgt rund 50 Minuten. In der Wissenschaft ist man sich einig, dass Telefondolmetschen um einiges anstrengender und ermüdender ist als Dolmetschen vor Ort und dass die Qualität bereits ab 15 Minuten signifikant abnimmt. Die empfohlene Maximaldauer beträgt darum 30 Minuten.
  • Komplexe und emotionale Inhalte erschweren die Verdolmetschung zusätzlich. Insbesondere bei längeren Gesprächen der Beratung und Rechtsvertretung dürfte es sich in der Regel um schwierige Themen handeln - Telefondolmetschen ist dafür nur bedingt geeignet.
  • Aufgrund der hohen Anforderungen sollten die Dolmetschenden gezielt für Einsätze in diesem Setting geschult sein. Sie sollten mindestens über das Zertifikat INTERPRET verfügen, Sprachnachweise in allen Arbeitssprachen auf dem Niveau C1 erbracht haben und über eine spezifische Weiterbildung im Telefondolmetschen (z.B. Modul 3) verfügen. Die vom SEM im Rahmen der Ausschreibung zum Rechtsschutz formulierten Angaben zur Qualifizierung der Dolmetschenden sind diesbezüglich zu vage.

Vor diesem Hintergrund muss zumindest bezweifelt werden, ob die Qualität der Verdolmetschung im Rechtsschutz ausreichend ist, um der Komplexität des Settings und der Tragweite für die betroffenen Personen gerecht zu werden.

Mehr Informationen von INTERPRET zum


Wang: Telefondolmetschen nur als letztes Mittel

Jihong Wang (University of Queensland, Australien) hat in einer Studie (2018) die Einschätzung der Dolmetschenden eingeholt. Erfahrene Telefondolmetschende (N=465) nehmen Stellung zur Eignung des Telefondolmetschens, zu Entlöhnung und Arbeitsbedingungen sowie zur Qualität bzw. zu Qualitätseinbussen beim Telefondolmetschen. 

Insbesondere als nicht geeignet schätzen die Dolmetschenden Gesprächssituationen ein mit emotionalen Inhalten (wie Gespräche über Leben oder Tod), Gespräche in juristischen Settings (z.B. in Gerichten, Gefängnissen oder im Asylverfahren) sowie Gespräche in medizinischen Kontexten (insb. bei psychiatrischen / psychologischen Themen). 

Trotzdem finden viele Einsätze genau in diesen Situationen statt: "I prefer on-site interpreting because it is much more accurate and professional, but most agencies and clients are opting for phone interpreting and sacrificing the quality of interpreting." (S. 110)

Wang stellt zudem fest, dass die Qualitätseinbussen beim Telefondolmetschen von ausgebildeten Dolmetschenden grundsätzlich kritischer eingestuft werden als von nicht ausgebildeten Dolmetschenden.

Die Dolmetschenden streichen die folgenden Herausforderungen besonders hervor: visuelle Informationen fehlen, die Tonqualität ist oft schlecht und die fehlende Vorbereitungszeit erschwert eine qualitativ gute Verdolmetschung. Die Dolmetschenden schätzen beim Telefondolmetschen, dass sie keine Wegdistanzen zurücklegen müssen, hingegen fehlt ihnen der direkte Kontakt mit den Klient*innen. Die Entlöhnung ist beim Telefondolmetschen generell schlechter, da in der Regel nur die effektiv geleistete Dolmetschzeit entschädigt wird. 

Besonders hervorgehoben wird von den Dolmetschenden weiter, dass die kommunikativen Fähigkeiten der Fachpersonen für die Qualität der Telefondolmetschleistungen ebenfalls entscheidend sind. Wang plädiert daher für eine verstärkte Information und Sensibilisierung der Nutzer*innen über die besonderen Anforderungen des Telefondolmetschens.


Skaaden: Probleme des 'Turn-Taking'

In einem Pilotkurs zum Videodolmetschen haben 45 Studierende der Oslo Metropolitan University ihre persönlichen Erfahrungen und Lernprozesse mit dem Videodolmetschen kommentiert und diskutiert. Der schriftliche Erfahrungsaustausch wurde anschliessend von der Dozentin Prof. Dr. Hanne Skaaden ausgewertet.

In der Diskussion der Studierenden zeigen sich zentrale Herausforderungen des Videodolmetschens:

Ein zentrales Thema beim Dolmetschen auf Distanz (sowohl per Telefon als auch per Video) ist das Turn-Taking (Sprecherwechsel). Beim Dolmetschen vor Ort können die Dolmetschenden der Gesprächsleitung mit ganz verschiedenen, meist non-verbalen Signalen relativ unaufdringlich signalisieren, dass der Redefluss zwecks Verdolmetschung unterbrochen werden sollte (zum Beispiel mittels Augenkontakt, Handheben, Körperbewegung, leichtem Räuspern, etc.). Die Auswertungen aus dem Pilotkurs zeigen, dass beim Videodolmetschen das Turn-Taking viel schwieriger ist, obwohl die Sichtbarkeit grundsätzlich ja gegeben ist: 

"Turn-taking becomes more difficult since you cannot signal with your hands, but have to resort to direct interruption. In the worst case this may cause (the interpreter) to silence the interlocutors" (Student 18m, S. 844)

Diese direkte, d.h. verbale Intervention wirke jedoch oft sehr resolut und unfreundlich und führe im schlimmsten Fall zu einer Unterbrechung der Konversation, stellen die Studierenden fest. 

Die Studierenden erwähnen diesen Kontrollverlust beim Distanzdolmetschen auch in Bezug auf die Länge der Redebeiträge. Die Dolmetschenden werden aufgrund der fehlenden physischen Präsenz im Gespräch weniger wahrgenommen. Dies führt dazu, dass die Redebeiträge generell länger sind, was wiederum dazu führt, dass die ohnehin anspruchsvolle Leistung des Distanzdolmetschens noch schwieriger und stressiger wird. 

Diese Schwierigkeiten nehmen jedoch nur die Dolmetschenden wahr:

"What is kind of strange is that it seems like only the interpreter experiences the situation as more stressful and experiences a reduction in the interpreting quality." (Student 18m, S. 838)

Sowohl die Studierenden als auch Skaaden schlussfolgern, dass alle Beteiligten unbedingt über die veränderten Bedingungen des Distanzdolmetschens geschult werden sollten, damit die Qualität der Verdolmetschung nicht übermässig leidet: 

"Necessary accommodations would include supplying the interpreter with contextual information and securing studio and transmission conditions as well as paying attention to the number of participants, their presentation, and so forth. Obviously, the training of interpreters alone is not enough to ensure proper work conditions in RI ("Remote Interpreting", Anm. INTERPRET): it requires adequate training of those in charge of institutional encounters as well." (S. 853)


Moser-Mercer: Fehlende Präsenz als zentrale Ursache für Stress, Ermüdung und Qualitätseinbussen

Barbara Moser-Mercer, emeritierte Professorin an der Fakultät für Übersetzen und Dolmetschen an der Universität Genf sowie Gründerin und Direktorin des Projekts InZone, untersuchte bereits 2005 in einem aufwändigen vergleichenden Forschungssetting die verschiedenen Konsequenzen des Dolmetschens auf Distanz.

Dabei stimmten die persönlichen Einschätzungen der beteiligten Konferenzdolmetscher*innen mit den medizinischen Untersuchungen und der Analyse der Dolmetschqualität überein: Dolmetschen auf Distanz (in ihrer Studie Videodolmetschen) ist im Vergleich zum Dolmetschen vor Ort mit grösserem Stress verbunden (erhöhte Ausschüttung des Stresshormons Cortisol), ist energieraubender und somit deutlich ermüdender. Während die Studie für das direkte Dolmetschen eine Schwelle von 30 Minuten bestätigte, zeigte sich diese Schwelle für das Videodolmetschen bereits nach 15 Minuten (!). Distanzdolmetschen führt damit bereits ab einer Dauer von 15 Minuten zu merklichen Qualitätseinbussen bei der Exaktheit und Vollständigkeit der Verdolmetschung. Moser-Mercer führt dies insbesondere darauf zurück, dass Dolmetschende mit der Distanz und einem Gefühl des Kontrollverlusts zu kämpfen haben. Die physischen und psychologischen Konsequenzen wie auch die Qualitätseinbussen waren nachweislich nicht durch technische Schwierigkeiten oder inhaltliche Komplexität bedingt, sondern sind auf die fehlende (tatsächliche oder gefühlte) Präsenz in der Situation zurückzuführen. 

Sie plädiert daher für deutlich kürzere Einsätze und eine äusserst sorgfältige Verwendung des Dolmetschens auf Distanz unter grösstmöglicher Berücksichtigung bester Arbeitsbedingungen.


Projekt der Johannes Gutenberg Universität Mainz (D)

Turn-Taking und Verständnissicherung beim Telefondolmetschen Arabisch-Deutsch (2019-2021)

Seit 2019 führt ein Forscherteam um Prof. Dr. Bernd Meyer ein Projekt zum Verfahren des Sprecherwechsels und der Verständnissicherung beim Telefondolmetschen Arabisch-Deutsch durch. Gegenstand der Untersuchung sind quasi-authentische Beratungsgespräche in sozialen Handlungszusammenhängen, zu denen Dolmetscher per Telefon herangezogen werden.

Forschungsergebnisse sind noch keine einsehbar. Informationen zum Projekt finden sich unter folgendem Link.


Positionspapier BDÜ: Zum Telefon- und Videodolmetschen im Gemeinwesen und im Gesundheitswesen

Gute Antworten auf die Frage, für welche Settings das Telefon- und Videodolmetschen geeignet sein kann und was es dabei zu beachten gilt, hat der Deutsche Bundesverband der Dolmetscher und Übersetzer BDÜ in seinem Positionspapier zusammengestellt. INTERPRET hat das Positionspapier bereits früher vorgestellt, weist an dieser Stelle aber gerne noch einmal darauf hin.

Ich brauche eine interkulturell dolmetschende Person

In der Regel läuft die Vermittlung einer interkulturell dolmetschenden Person über die regionalen Vermittlungsstellen. Sie vermitteln professionelle Dolmetschende vor Ort und via Telefon und Video.

In der Datenbank der ikDV können Sie direkt nach zertifizierten interkulturell Dolmetschenden suchen.

Ich interessiere mich für die Ausbildung

Die Ausbildung wird von Institutionen in den verschiedenen Regionen durchgeführt. Kursangebote, Termine etc. finden Sie in der Rubrik Aktuelle Kursangebote.

Das Qualifizierungssystem von INTERPRET (Zertifikat INTERPRET, Eidg. Fachausweis) wird in der Rubrik Qualifizierungssystem INTERPRET erklärt. 

Weitere Informationen erhalten Sie bei der Qualifizierungsstelle (031 351 38 29) von 9:00 bis 12:30.